Ohne Raupen keine Schmetterlinge und Vögel!

Die Gespinstmotten marodieren mal wieder. Maßnahmen gegen die Massenvermehrung sind überflüssig.
Die Insekten sind also doch nicht alle gestorben! Aktuell überziehen wieder die einheimischen Gespinstmotten Büsche und Bäume mit ihren Fäden, die weißen Schleier erschrecken Spaziergänger und Anwohner, Behörden und Zeitungen werden mit Anrufen beschäftigt. Der „Gespenstervorhang“ aus feinen Spinnfäden überzieht einzelne Büsche und ganze Baumreihen, und sieht für Unkundige schon ein wenig gruselig aus. Das Phänomen tritt alljährlich in unterschiedlicher Stärke auf – und gehört zur normalen Artenvielfalt dazu.

Gespinstmotten-Raupen verpuppen sich an einem Weißdorn (Foto: Dahl)
Gespinstmotten-Raupen verpuppen sich an einem Weißdorn (Foto: Dahl)

Aus den Raupen, die jetzt im Frühjahr Büsche und Bäume kahlfressen, entwickeln sich in wenigen Wochen die winzigen, jedoch wunderhübschen Gespinstmotten, das Ganze bildet die Nahrungsgrundlage für die einheimischen Vögel, Fledermäuse und eine Vielzahl anderer Arten.
Pfaffenhütchen-Gespinstmotte Y. cagnagella (Foto: Armin Dahl)

Drei Arten sind es, die besonders häufig zu sehen, aber schwer zu unterscheiden sind: Die Traubenkirschen-Gespinstmotte (lat. Yponomeuta evonymella) lebt an der Traubenkirsche, die oft als Straßenbaum im Außenbereich wächst. Der lateinische Name deutet an dass die Art an Euonymus (Pfaffenhütchen) leben soll: ein Fehler des schwedischen Forschers Carl von Linné, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Klassifikation schuf.
Die Pflaumen-Gespinstmotte (Yponomeuta padella) findet sich im April und Mai in den meisten Schlehen- und Weißdornhecken.
Yponomeuta cagnagella, die Pfaffenhütchen-Gespinstmotte, lebt ausschließlich an Euonymus (Pfaffenhütchen).
Alle drei Arten können in guten Jahren (trockenes Frühjahr) Massenvermehrungen machen und überziehen in den letzten Stadien der Raupenentwicklung Büsche und Bäume mit dem unschönen Überzug, der ein wenig wie ein Leichentuch aussieht. Die Raupen schützen sich mit dem Gespinst gegen ihre Fressfeinde, dazu gehören neben den einheimischen Vögeln vor allem die winzigen parasitischen Schlupfwespen, die wichtigsten Gegenspieler der einheimischen als „Motten“ beschimpften Kleinschmetterlinge.
Das alles ist völlig normal und findet jedes Jahr in unterschiedlichem Ausmaß statt, und Grund zur Aufregung besteht keiner. Im Gegenteil! In ein paar Wochen ist der Spuk vorbei, und aus den verpuppten Raupen sind Millionen kleine Gespinstmotten geschlüpft, die wie ein schmales, mit schwarzen Punkten besprenkeltes Reiskorn aussehen.
Kleiner Einschub aus dem Ökologie-Lehrbuch: Nach landläufiger Meinung ist der tropische Regenwald der Platz an dem sich die Pflanzen-Biomasse am raschesten entwickelt. Das ist jedoch falsch, der Platz an dem das Grünzeug in wenigen Wochen geradezu explodiert liegt vor unserer Haustür, in den Mitteleuropäischen Wäldern mit ihren Laubgehölzen, im April und Mai. Und daran angepasst leben die einheimischen Schmetterlinge ein paar Wochen in Saus und Braus, zum Beispiel die beiden Frostspanner-Arten, Eichenwickler und die oben beschriebenen Gespinstmotten.
Und weil das so ist kommen alljährlich Milliarden von Vögeln aus dem Süden zu uns und nehmen den Überschuß an Biomasse dankend in Empfang – wir nennen das Vogelzug. Wer das nicht glaubt, der setze sich mal vor einen Blaumeisenkasten in dem gerade die Jungen gefüttert werden, und schaue eine Viertelstunde zu, was die Eltern an ihre rasant wachsenden Jungen verfüttern: „Motten“-Raupen!
Die Gespinstmotten verpuppen sich irgendwann im Mai, und hängen ein paar Tage im Gespinst als Puppen bis zum Schlupf im Juni. Dann kann man sie überall an Hauswänden herumsitzen sehen, nachts sind die winzigen Falter an Lampen zu finden und fliegen als „Luftplankton“ massenhaft herum.
Und von diesen winzigen Falterchen leben also in ein paar Wochen Schwalben, Mauersegler, Fledermäuse und nicht zu vergessen die einheimischen Spinnen: Die „Motten“ bilden neben anderen die Grundlage der Nahrungspyramide für die einheimischen Vögel und viele andere Arten.
Die Büsche und Bäume sind an dieses Treiben gewöhnt und angepasst. Nach dem Kahlfraß kommt der sogenannte „Johannistrieb“: Blattknospen, die für das nächste Frühjahr angelegt sind, treiben um das Datum des Johannistages am 24. Juni aus. Damit überstehen die Gehölze auch heftige Attacken zum Beispiel durch Maikäfer. Im Juli ist dann alles wieder grün und der Spuk ist für dieses Jahr vorbei.
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